In Fauna-Flora-Habitat-Gebieten (kurz: FFH-Gebieten), welche nach der europäischen Richtline Natura 2000 besonders geschützt sind, beschreiben die verbindlichen Managementpläne unter anderem die Erhaltungsziele, welche für das jeweilige Gebiet definiert wurden.
Art. 6 Abs. 3 der FFH-Richtlinie bzw. § 34 des Bundesnaturschutzgesetzes schreibt die Prüfung der Verträglichkeit von Projekten oder Plänen, die in einem Gebiet umgesetzt werden sollen, mit den festgelegten Erhaltungszielen des betreffenden Gebietes vor.
Realitätscheck
Aber wie sieht es in der Praxis aus? Wie läuft eine solche Verträglichkeitsprüfung ab, und wie häufig wird sie tatsächlich durchgeführt?
Wir wollen den Sachverhalt aus drei verschiedenen Perspektiven betrachten.
Bundesamt für Naturschutz
Auf den Seiten des Bundesamts für Naturschutz heißt es direkt in der Einleitung zum Thema:
Weiter wird im Text zwischen Vorprüfungen und den eigentlichen Verträglichkeitsprüfungen unterschieden.
Vorprüfung
Die Vorprüfung soll klären, ob es durch Pläne oder Projekte prinzipiell zu erheblichen Beeinträchtigungen eines Natura 2000-Gebietes kommen kann.
In Ausnahmefällen kann eine Vorprüfung dazu führen, dass eine Verträglichkeitsprüfung nicht durchgeführt werden muss:
“Sind erhebliche Beeinträchtigungen nachweislich auszuschließen, so ist eine vertiefende FFH-Verträglichkeitsprüfung nicht erforderlich.”
Studiert man die weiteren Ausführungen wird deutlich, dass eine solche Vorprüfung nur in Ausnahmefällen dazu führen kann, auf eine Verträglichkeitsprüfung zu verzichten:
Sind erhebliche Beeinträchtigungen nicht mit Sicherheit auszuschließen, muss zur weiteren Klärung des Sachverhaltes eine FFH-Verträglichkeitsprüfung nach § 34 ff. BNatSchG durchgeführt werden. Grundsätzlich gilt im Rahmen der Vorprüfung ein strenger Vorsorgegrundsatz, bereits die Möglichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung löst die Pflicht zur Durchführung einer FFH-Verträglichkeitsprüfung aus.
Verträglichkeitsprüfung
Auf den Seiten des Bundesamts für Naturschutz heißt es zur Verträglichkeitsprüfung:
Die FFH-Verträglichkeitsprüfung erfolgt auf der Basis der für das Gebiet festgelegten Erhaltungsziele. Zentrale Frage ist, ob ein Projekt oder Plan zu erheblichen Beeinträchtigungen eines Natura 2000-Gebietes in seinen für die Erhaltungsziele maßgeblichen Bestandteilen führen kann. Prüfgegenstand einer FFH-VP sind somit die
- Lebensräume nach Anhang I FFH-RL einschließlich ihrer charakteristischen Arten,
- Arten nach Anhang II FFH-RL bzw. Vogelarten nach Anhang I und Art. 4 Abs. 2 Vogelschutz-Richtlinie einschließlich ihrer Habitate bzw. Standorte sowie
- biotische und abiotische Standortfaktoren, räumlich-funktionale Beziehungen, Strukturen, gebietsspezifische Funktionen oder Besonderheiten, die für die o.g. Lebensräume und Arten von Bedeutung sind.
Forstamt Rhein-Neckar
Auf Grundlage von §§ 3, 4 Umweltinformationsgesetz des Bundes (UIG) in Verbindung mit den einschlägigen landesrechtlichen Umweltinformationsbestimmungen haben wir im November 2022 beim Kreisfortsamt Rhein-Neckar eine Übersicht der für das FFH-Gebiet Steinachtal und kleiner Odenwald durchgeführten Verträglichkeitsprüfungen angefragt.
Dort hat man offensichtlich einen anderen Blick darauf, wie die Vorgaben zu interpretieren sind:
In der Erklärung des Kreistforstamts zur Anfrage heißt es weiter:
Der Grundgedanke, der hinter dieser NATURA 2000-Richtlinie steht, ist die Art bzw. den Lebensraum dort zu schützen, wo sie typisch und häufig ist. Deswegen sind das in einer Kulturlandschaft wie der unsrigen Arten bzw. Lebensraumtypen, die mit der bisherigen Bewirtschaftung i.d.R. gut zurechtkommen. Zweite wichtige Besonderheit der FFH- Richtlinie ist, dass sich Anforderungen an bestimmte Parameter nie auf einzelne Bestände beziehen, sondern auf die gesamt Fläche des Lebensraumtyps im Natura 2000-Gebiet. Es könnte also das gesamte Altholz einen Bestandes geerntet werden, ohne dass sich der FFH-Zustand verschlechtert, unter der Voraussetzung, dass die summierte Altholzfläche im ganzen Gebiet gewisse Schwellenwerte nicht unterschreitet.
Europäische Union und aktuelle Gerichtsurteile
Das Umweltforum Osnabrück e.V. berichtete im Januar 2023 in einer zweiteiligen Artikelserie ebenfalls über das Thema Natura 2000 in Wäldern. (Teil 1 | Teil 2)
Schutzziel Forstwirtschaft?
Im ersten Teil analysiert die Autorin Laura Apel entlang von Luftbildaufnahmen die Auswirkungen forstlicher Eingriffe in bewaldeten Natura 2000-Gebieten.
Insgesamt etwa 8 % der deutschen Waldfläche genießen den Schutz Natura 2000 nach der FFH-Richtlinie und der EU-Vogelschutzrichtlinie.
Entlang von Beispielen in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz kommt Laura Apel zum Schluss, dass “die Prioritätensetzung „Wirtschaft“ auch vor dem europäischen Schutzgebietssystem Natura 2000 bislang nicht Halt macht”.
Am Beispiel von Luftbildern des Teilbereichs „Kleiner Berg“ des FFH-Gebiets „Teutoburger Wald, Kleiner Berg“ (DE3813331) zeigt Laura Apel, dass – “europäische Vorgaben hin oder her” – die Forstwirtschaft im dortigen Gebiet gewissermaßen Narrenfreiheit genießt. Im Zeitraum zwischen 2018 bis 2022 ist es zu mindestens 74 ha zusätzlichen Kahlflächen im Schutzgebiet gekommen.
Die Europäische Union hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen mangelhafter Umsetzung der FFH-Richtlinie angestrengt. Kritisiert wird dort unter anderem, dass es für die meisten Natura 2000-Gebiete keine konkreten Erhaltungsziele gibt.
(Zu einer ähnlichen Einschätzung kam übrigens auch die Rechtsanwältin Dr. Cornelia Ziehm, die in einem von Greenpeace beauftragten Rechtsgutachten unter anderem auch Maßnahmen und Managementplan unseres lokalen FFH-Gebiets analysiert und beurteilt hat.)
So bleibt sehr viel Raum für Interpretation und Spekulation, was auch in den Aussagen des Kreisforstamts Rhein-Neckar (siehe oben) anklingt.
FFH-Verträglichkeitsprüfpflicht für die Forstwirtschaft
Noch besser zum Thema dieses Artikels passt allerdings Teil 2 der Veröffentlichung von Laura Apel.
In einem im Juni 2022 gefällten Urteil des Europäischen Gerichtshofs wird deutlich, dass sich auch forstliche Arbeiten in Natura 2000-Gebieten FFH-Verträglichkeitsprüfungen zu unterziehen haben. Gerügt wurde in diesem Beispiel die Slowakische Republik.
Im Urteil heißt es unter anderem, dass die Slowakische Republik ihren Verpflichtungen zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen nicht nachgekommen sei, indem es forstliche Maßnahmen von einer “angemessenen Prüfung auf Verträglichkeit mit den für das betreffende Gebiet festgelegten Erhaltungszielen” ausgenommen habe.
Urteil des OVG Bautzen mit Präzedenzcharakter
Zusätzliche Strahlkraft genießt ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bautzen vom 9.6.2020. Laura Apel folgert aus diesen Urteilen, dass sich die Forstwirtschaft in Deutschland nicht über die europäischen Schutzrichtlinien hinwegsetzen darf.
Wie vom Bundesamt für Naturschutz beschrieben (siehe oben) ist eine FFH-Verträglichkeitsprüfung nur dann nicht erforderlich, wenn erhebliche Beeinträchtigungen nachweislich auszuschließen sind.
Laura Apel hält diese Voraussetzung aber nur in den allerwenigsten Ausnahmefällen für gegeben:
Eine solche Gewissheit besteht aber regelmäßig nicht, wenn man bedenkt, dass unter den Schutzgütern mancher bewaldeter FFH-Gebiete z.B. die Habitate der Anhang-II-Arten Bechsteinfledermaus oder Hirschkäfer anzutreffen sind, bei denen es bereits beim Verlust einzelner essenzieller Bestandteile (Habitatbäume, Höhlenbäume) schon zu Verschlechterungen des Erhaltungszustandes kommen kann.
Hier schließt sich gewissermaßen der Kreis zu Nußloch und unserem lokalen FFH-Schutzgebiet “Steinachtal und kleiner Odenwald”: Auch hier sind insbesondere die Habitate des Hirschkäfers als auch der Bechsteinfledermaus unter den Erhaltungszielen aufgeführt.
Konsterniert stellt die Autorin fest:
Mit solchen „Nebensächlichkeiten“ hält sich die Praxis aber erst gar nicht auf, denn erfahrungsgemäß unterbleiben Verträglichkeitsprüfungen für forstwirtschaftliche Planungen und Eingriffe bisher ohnehin komplett. Oft findet nicht einmal eine Vorprüfung statt, weil immer noch der Irrglaube vorherrscht, die Forstwirtschaft genieße eine Sonderstellung.
Fazit
Nach wie vor kommt es regelmäßig zu gebietsspezifischen Zielkonflikten. Wer das Thema Schutz in Schutzgebieten tatsächlich ernst meint, darf sich unserer Ansicht nach deshalb nicht hinter integrierten Forsteinrichtungswerken verstecken, sondern sollte geplante Maßnahmen tatsächlich in Form von FFH-Verträglichkeitsprüfungen im Sinne der vorgegebenen Erhaltungsziele durchführen.
Auch eine integrierte Planung im Sinne des EU-Leitfadens mit der Beteiligung der anerkannten Naturschutzverbände wäre möglich. Dort sollte dann konkret dargelegt werden, „was, wann, wie und wo“ erfolgen soll.
Oder, wie Laura Apel in ihrem Artikel resümiert:
Eine bloße Nennung der Forstwirtschaft in einem Managementplan reicht nicht aus.